Das Mädchen Leentje und das gestrandete Licht

1962. Die Hamburger Sturmflut. Ende und Anfang.

Das blaue Licht suchen, gleich nach der Flut.

Das Mädchen Leentje hat keine Wahl. Nach der Sturmflut beginnt sie ganz von vorn. Schuld ist der gefräßige Schlamm. Denn der hat alles verschluckt. Die Eltern, das Haus und die Wiese! Selbst den Deich, der sie beschützte.
Jetzt muss sie flink lernen, um die verlorenen fünf Jahre wettzumachen! Und als Erstes greift sie gleich nach den Sternen. Doch sie erreicht sie nicht, so hoch sie den Turm aus Möbeln auch baut.
Immerhin rutscht ein Stern vom dunklen Himmel herab. Und er zwinkert auf seinem Flug! Er ist der Schönste, findet Leentje! Nun hat sie einen Wunsch frei.
Noch in der Nacht rudert sie mit dem Boot hinaus, um den Stern zu finden. Doch nur eine Zigarre rauchende Alte in einem Unterrock steigt zu ihr ins Boot. Und Leentje ist bald wütend über deren Kaltherzigkeit. Doch die Alte weiß, wo der Stern gestrandet ist!

»Es geht nicht darum, wie das Meer glänzt. Wie dein Herz schlägt bei seinem Anblick - das ist wichtig!«


Novelle. Als zweite Auflage am 10.09.2023 im Verlag Tredition erschienen. Taschenbuch mit 28 Seiten und als E-Buch.

Was der Orkan verschmähte, verschluckte hungrig die Flut. Das hatte Leentje gelernt. In einem tosenden Augenblick. Sie musste teuer bezahlen für dieses Wissen!
Denn vor drei Tagen verschwand alles. Alles, was sie in fünf Jahren kennengelernt hatte. Der dicke zähe Schlamm riss die Eltern fort. Und das Haus. Ihr ganzes Leben hatte er ertränkt! Obwohl sie ihm entkam zuletzt.
Leentje schüttelte sich. Nur diese fünf Jahre hatte sie besessen. Jetzt musste sie von vorn anfangen!
Ein Soldat mit schwarzem Bart riss Leentje aus den Fängen des gefräßigen Schlamms. Im letzten Augenblick, schrien seine Augen.
In seinem Boot steckte er sie in eine grobe Decke, legte ihr den Wollschal um und setzte sie auf die Bank. Was er alles fragte auf der Fahrt danach!
Doch Leentje hatte geschwiegen. Statt zu antworten, hatte sie sich an die Reling geklammert. Und mit brennenden Augen auf die blanke Fläche gestarrt, die ihr Leben verschluckt hatte.
So friedlich spiegelte sich der Mond darin! Und doch war von dem hellen Lachen nichts mehr übrig. Es tobte nicht mehr durch das Gras hinterm Deich. Selbst die Wiese war verschwunden. Zusammen mit dem Deich. Die blanke Fläche hatte alles gierig gefressen.
Nur der alte erloschene Leuchtturm stand noch aufrecht auf der Klippe. Er hatte alles mitangesehen.
In diesem Augenblick wusste Leentje einfach keine Worte.
Auch der Soldat hörte bald auf zu fragen. Häufig rieb er sich den schwarzen Bart. Immer, wenn er zu ihr herübersah.
Er hantierte mit einem Scheinwerfer, während er nach etwas suchte. Stundenlang. Verzweifelt. Doch er zog niemanden mehr an Bord. Leentje blieb allein mit ihm.
Irgendwann hatte er sich neben sie gesetzt und das Boot treiben lassen. Sie beide schwiegen. Den ganzen Rest der Nacht. Leentje fühlte sich ganz leer auf einmal. So sehr, dass sie darüber einschlief.
Am Morgen brachte der bärtige Soldat Leentje stumm in ein Kinderheim.
Als er sie umarmte, zum Abschied, sah Leentje, dass sein Bart ganz weiß geworden war. Sie erschrak. Auch er hatte sein Leben verloren letzte Nacht! Deshalb hatte er so verzweifelt gesucht! Weil er viel mehr verloren hatte als sie. Einiges mehr als fünf Jahre!
Leentje hatte ihn an sich gedrückt. Denn sie fühlte plötzlich ihr Herz pochen. Und seins. Bis er sich losriss mit einem Ruck.
Leentje zitterte, als er fortging. Merkte er denn nicht, dass ein dicker Kloß ihr den Hals abschnürte? Sie spürte, wie die Einsamkeit schon herangekrochen kam. Eisig kalt wie das Wasser, das den Deich weggespült hatte. Und gefräßig wie der Schlamm, der sie verschlingen wollte. Doch er drehte sich nicht mehr um.
Jetzt, drei Tage Alleinsein später, saß Leentje auf dem Bett, das sie ihr überlassen hatten.
Schlotternd hatte sie sich unter der Decke verkrochen, als die Ohnmacht sie das erste Mal befiel. Die dunkle Wärme hatte die Leere aus ihrem Kopf vertrieben und ihn mit Tränen gefüllt. Das Zittern hatte erst aufgehört, als sie keine mehr hatte. Da war sie aufgesprungen.
Sie hatte das Fenster geöffnet. Für die frische Nachtluft. Und sie hatte die Sterne neu entdeckt.

Leentje wollte ganz von vorn beginnen!

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